Unsere jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn in der Pradelstraße

von Klaus Sennholz

Foto: Peter Müller

Als das Lutherhaus in den späten zwanziger Jahren errichtet wurde (Grundsteinlegung 1928, Fertigstellung 1930), war es das einzige Gebäude in der Pradelstraße. Insbesondere existierte noch nicht die Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Allerdings muss dort schon bald rege Bautätigkeit geherrscht haben, denn bereits Ende 1931 oder Anfang 1932 war die gesamte Häuserreihe (Nr. 4 bis Nr. 18) komplett bezogen. Der Eigentümer aller Häuser war ein Generaldirektor E. Heinze, wohnhaft in Schöneberg, später in Wilmersdorf.

Im Berliner Adressbuch des Jahres 1932 (Erstbezug) finden sich in der Pradelstraße bereits zwei jüdische Familien. Im Haus Nr. 14 wohnte als Haushaltsvorstand der Kaufmann Wilhelm Mendelsohn aus Hannover mit seiner Frau Frieda, geb. Maeffert, aus Berlin. Frieda Maeffert, geb. 1883, war keine Jüdin, Wilhelm Mendelsohn, geb. 1885, hatte einen jüdischen Vater und eine nicht-jüdische Mutter. Das mag auch der Grund dafür sein, dass er 1886 evangelisch-lutherisch getauft worden war. Geheiratet haben sie am 5. Juli 1923, also etwa 10 Jahre, bevor sie in die Pradelstraße gezogen sind. Ob sie Kinder hatten, ist nicht bekannt.

Und in das Haus Nr. 8 zog im gleichen Jahr frisch vermählt der Konfektionär Kurt Juliusburger mit seiner Frau Charlotte, geb. Jastrow, ein. Kurt Juliusburger, geb. 1893 in Berlin, war Sohn jüdischer Eltern aus Oberschlesien bzw. Niederschlesien, und Charlotte, geb. 1905, hatte einen jüdischen Vater aus Rogasen b. Posen und eine nicht-jüdische Mutter aus dem Spreewald. Sie hatten im August 1931 gerade erst geheiratet und bekamen dann in der Pradelstr. 8 im Februar 1933 einen Sohn namens Wolfgang.

Wenig später, 1934 oder 1935, zog Kurt Juliusburgers jüngere Schwester Lucie Juliusburger, geb. 1895, ledig, Buchhalterin bei Siemens, in die Pradelstr. 18, genau gegenüber dem Gemeindehaus. Kurt und Lucie hatten noch vier jüngere Geschwister: Walter, Felix, Hildegard und Edith.

Auf diesem Foto von etwa 1930 sind alle damals noch lebenden Geschwister zu sehen. (Edith war nur acht Monate alt geworden und Hildegard hatte 1920 kurz vor ihrem 21. Geburtstag den Freitod gewählt.)

Am linken Bildrand sitzt Lucie, neben ihr Käthe, die Frau von Walter. Dann kommt Kurt und danach Walter in der Mitte des Bildes. Es folgen die Mutter Fanny und am rechten Bildrand der jüngste Bruder Felix mit seiner Frau Rosa.
Käthe und Rosa, beide geborene Cohn, waren übrigens Cousinen.

Kurt wird es gelingen mit Frau und Sohn in die USA zu emigrieren, Käthe und Walter mit ihren beiden Söhnen zunächst nach Palästina, später ebenfalls in die USA. Die Mutter wird bald versterben. Lucie sowie Rosa und Felix werden wie deren Sohn Horst in der Shoa umkommen.

Das Foto ist sicherlich in der elterlichen Wohnung in der Schönhauser Allee 118 aufgenommen worden, in der Lucie noch bis zu ihrem Umzug in die Pradelstraße lebte.

Im Jahr 1936 oder 1937 zog dann die jüdische Witwe Martha Goldstein, geb. 1872 in Leipzig, mit ihren unverheirateten erwachsenen Kindern Edith (1897), Margarethe (1899) und Martin (1900) in die Pradelstr. 12 ein. Martha Goldstein, geb. Lewin, hatte mit ihrem 1934 verstorbenen Mann Albert Goldstein aus Danzig insgesamt 11 Kinder und zog etwa zwei Jahre nach seinem Tod mit diesen dreien in die Pradelstraße. Der letzte Zuzug von Menschen jüdischer Abstammung in die Pradelstraße war ein Jahr später. Minna Kniebel, geb. Kasprowicz, stammte aus Schwersenz bei Posen, wo sie 1855 als Tochter jüdischer Eltern geboren wurde. Mit 33 Jahren heiratete sie dort 1889 den schon recht betagten jüdischen Schneidermeister Gumprecht Kniebel, dessen Frau kurz zuvor gestorben war. Mit ihm hatte sie drei Kinder: Max (1890), Rosa (1891) und Henriette (1893). Bereits 1897 starb Gumprecht Kniebel und hinterließ seine Frau mit den drei Kindern im Alter von vier bis sieben Jahren. Mit diesen ging sie irgendwann zwischen 1897 und 1925 nach Berlin. Hier wohnte sie zeitweise in der Naugarder Straße und später in der Grellstraße und zog 1938/1939 mit ihren beiden ledigen Töchtern Rosa und Henriette (genannt Jette) in die Pradelstr. 4.

So lebten am 17. Mai 1939 in unserer Straße 12 Menschen jüdischer Abstammung. Wir wissen das so genau, weil an jenem Tage in Deutschland eine wichtige Volkszählung stattfand, in deren Verlauf für Menschen „nichtarischer“ Abstammung sog. Ergänzungskarten angelegt wurden, auf denen ihre Abstammung genau vermerkt war.

Aus diesen Karten, die heute digitalisiert und öffentlich zugänglich sind, wissen wir, dass Kurt und Charlotte Juliusburger ihre Wohnung im Haus Nr. 8 im Frühjahr 1939 bereits aufgegeben hatten, offenbar weil sie sich anschickten in die USA zu emigrieren. Jedenfalls wohnten sie inzwischen samt Söhnchen Wolfgang bei Lucie Juliusburger im Haus Nr. 18. In der Tat hatte ein Onkel mütterlicherseits von Charlotte, der bereits seit Jahrzehnten in den USA lebte, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erwirkt und offenbar auch gebürgt. Allerdings stellte sich im Sommer 1939 heraus, dass diese Einreisepapiere auf dem Dienstweg abhandengekommen waren und irgendeine andere verzweifelte Familie damit auf der Überfahrt war!

Daraufhin nahm jener Onkel Richard Lindstaedt aus Wyoming (sein Name verdient es unbedingt hier genannt zu werden) seine Frau und seinen Sohn, besorgte sich ein Empfehlungsschreiben seines Gouverneurs und schiffte sich ein nach Europa, um in Berlin bei der amerikanischen Botschaft vorstellig zu werden. Dort bedauerte man den Vorfall zwar sehr, sah sich aber, weil das Kontingent erschöpft war, außerstande Ersatzpapiere auszustellen. Onkel Richards bemerkenswerter Beharrlichkeit ist zu verdanken, dass es dann doch möglich wurde, sodass die drei Juliusburgers aus der Pradelstr. 8 sich am 22. November in Rotterdam einschiffen konnten und am 2. Dezember in New York ankamen. Richard Lindstaedt selbst fand keine direkte Schiffspassage mehr, er musste den Weg über Norwegen nehmen – schließlich hatte der 2. Weltkrieg schon begonnen.

Die Juliusburgers wurden in Wyoming heimisch. 1942 wurde noch eine Tochter Dorothy geboren und Kurt Juliusburger konnte einen kleinen Lebensmittelladen übernehmen, den er bis zu seinem Ruhestand führte. So lebten sie in bescheidenem Wohlstand und zufrieden in Casper, dem amerikanischen Volk sehr dankbar, wie Kurt einmal betonte. Er starb 1971, seine Frau Charlotte erst 1999, Wolfgang und Dorothy leben (jedenfalls unserer letzten Kenntnis nach) immer noch hochbetagt in Casper im Hause der Eltern.

Lucie Juliusburger blieb 1939 also in der Pradelstraße zurück, konnte dort aber nicht mehr lange wohnen bleiben. Bereits im Adressbuch von 1940 ist sie nicht mehr verzeichnet. Vermutlich wurde sie zwangsweise in ein sog. „Judenhaus“ einquartiert. Nachdem sie ihre Arbeit als Buchhalterin bei Siemens längst verloren hatte, musste sie ab dem 2. Juni 1940 bei den Siemens-Schuckert-Werken Zwangsarbeit leisten. Dort wurde sie Ende Februar 1943 im Rahmen einer der sog. „Fabrikaktionen“ verhaftet, am 1. März 1943 mit dem 31. Osttransport nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Vor dem Haus Nr. 18, ihrem letzten selbst gewählten Wohnsitz, haben wir 2021 einen Stolperstein verlegt.

Im Herbst 1942 wird wieder eine Wohnung in der Pradelstraße frei. Zuerst wird Minna Kniebel am 14. September mit dem 2. Großen Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Dort stirbt sie am 1. November um 4 Uhr morgens. Als Grund steht Altersschwäche auf dem Totenschein. Diese Angaben sind meistens gelogen, aber das spielt nicht wirklich eine Rolle. Wie lange soll denn eine 87 Jahre alte Frau überleben, wenn man sie aus ihrer vertrauten Umgebung und der Obhut ihrer beiden erwachsenen Töchter reißt, an einen unbekannten Ort verschleppt, wo es zu wenig und kein vernünftiges Essen gibt, keine hinreichende medizinische Versorgung, kaum genug Decken und bestenfalls eine Holzpritsche in einer völlig überfüllten Unterkunft, in der sich (wie es in diesem Fall verbürgt ist) 260 Menschen 4 Abortsitze teilen müssen? Minna Kniebel überlebt das 6 Wochen, was ein ziemlich typischer Zeitraum ist, denn in diesem Ghetto sterben in jenem Winter 1942/43  durchschnittlich 100 Menschen pro Tag, vor allem diejenigen aus den neu eintreffenden Transporten, weil sie auf die elenden Bedingungen dort nicht vorbereitet sind.

Ihre Töchter Rosa und Henriette, die vom Tod ihrer Mutter wohl kaum noch erfahren haben dürften, werden noch vor Jahresende 1942, nämlich am 29. November mit dem 23. Osttransport nach Auschwitz deportiert. Für alle drei Frauen haben wir 2019 Stolpersteine vor der Nr. 4 verlegt.

Die verwitwete Martha Goldstein muss miterleben, wie ihre drei Kinder Edith, Margarethe und Martin, mit denen sie bis zum Schluss in der Pradelstr. 12 zusammen lebte, ein paar Tage vor ihrem 70. Geburtstag deportiert werden. Am 19. Oktober 1942 werden sie mit dem 21. Osttransport nach Riga verfrachtet und dort drei Tage später ermordet. Für sie haben wir am 14. Mai die letzten drei Steine in der Pradelstraße verlegt. Ihre vielleicht bereits erkrankte Mutter starb am 1. Weihnachtstag des Jahres 1942 im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße an Herzmuskelschwäche. Sie hatte 11 Kinder geboren – von den 10 Kindern, die das Erwachsenenalter erreichten, überlebten zwei Töchter in Berlin, weil sie nicht-jüdische Ehepartner hatten, und zwei Söhne, denen die Flucht in die USA gelungen war. Die anderen sechs Kinder sind in der Shoa ermordet worden. Bei dreien hat sie die Deportation erleben müssen, bei den drei anderen blieb ihr das erspart. Erspart blieb ihr auch das Schicksal von Minna Kniebel, weil sie gerade noch rechtzeitig starb – denn auch ihr war zweifelsohne Theresienstadt zugedacht.

So war Ende 1942 die Pradelstraße fast „judenfrei“, wie es im Jargon der Täter hieß – bis auf eine Ausnahme. Im Haus mit der Nr. 14 wohnte noch Wilhelm Mendelsohn mit seiner nicht-jüdischen Frau Frieda, was ihn davor schützte, ebenfalls deportiert und ermordet zu werden. Sie starb 1948 an Herzinsuffizienz, er selbst lebte noch weiter in der Pradelstraße bis zu seinem Tod im Jahre 1953.

Von den 12 Menschen jüdischer Abstammung, die in unserer Straße gewohnt haben, hat also einer die nationalsozialistische Herrschaft in Berlin überlebt, dreien gelang die Flucht nach Amerika, einer starb eines natürlichen Todes und sieben Menschen sind in der Shoa umgekommen. Für sie liegen hier nun sieben Stolpersteine.