Die Toten

Predigt am Sonntag Lätare 2021 im Lutherhaus

von Pfarrer Eike Thies mit Dank an Kathrin Oxen für den Gärtner

Es befanden sich auch einige Griechen unter denen, die zum Fest nach Jerusalem gekommen waren, um Gott anzubeten. Die gingen zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und baten ihn:

    »Herr, wir wollen Jesus sehen!«

Philippus ging zu Andreas und sagte es ihm. Dann gingen die beiden zu Jesus und berichteten es ihm. Da sagte Jesus zu ihnen:

    »Die Stunde ist gekommen!

Jetzt wird der Menschensohn in seiner Herrlichkeit sichtbar. Amen, amen, das sage ich euch: Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.

Johannes 12,20-24 (BasisBibel)

In den Tassen wird der Kaffee kalt. Wir sitzen am Wochenende bei meinen Eltern im Wintergarten. Je länger wir sitzen, desto mehr Menschen tauchen um uns auf. Ich nenne sie die Toten. Der Frühstückstisch ist der Ort, an dem wir uns unsere Familiengeschichten erzählen. Manchmal rolle ich mit den Augen, weil ich das Ende der meisten Geschichten schon kenne. Am Ende stirbt jemand. Das kann Helmut sein, der eine Seele von einem Mensch war. Den konntest du nachts anrufen, wenn du kurz hinter München auf der Autobahn liegen geblieben bist. »Bleib liegen, ich komme«, hat er dann gesagt. Helmut hatte immer schwarze Finger. Durchgefärbt vom vielen Öl. Er war Schrauber. Seine schwarzen Finger haben ihn genauso wenig interessiert wie sein dicker Bauch. Helmut ist einer von den Toten.

Durch die Fenster im Wintergarten kann man im Frühling die gestutzten Linden auf dem Friedhof sehen. Auf dem Friedhof liegen die anderen Toten im Familiengrab. Oma Hantje und Onkel Heino. Auch von ihnen erzählen wir uns an diesem Morgen. Da ist viel Krebs in meiner Familie, singt Thees Uhlmann. In meiner auch, antworte ich stumm, während der Kaffee in den Tassen kalt wird.

Lazarus liegt kalt in seinem Grab. Er ist schon vier Tage tot. Wäre Jesus doch früher gekommen, Lazarus würde noch leben. Jetzt ist es zu spät. Ein schwerer Stein versperrt den Weg ins Innere des Grabes. Seine Familie hat die Hoffnung längst aufgegeben. »Wälzt den Stein Weg«, sagt Jesus. Auch seine Jünger*innen fragen sich, was das werden soll. In Jesu Gegenwart ist noch niemals ein Mensch gestorben. Aber ob er einen Menschen von den Toten zurückholen kann? Was ist, wenn sein Körper schon vergeht. »Lazarus, komm raus«, sagt Jesus. Und Lazarus kommt aus seinem Grab. Als sie die Tücher von ihm nehmen, blinzelt er in der Sonne.

Lazarus lebt. Dieses Wunder bleibt nicht verborgen. In Jerusalem fassen sie den Entschluss, Jesus zu töten. Jesus aber geht, ohne dass ihn jemand ergreift. Er bleibt auch in dieser Situation Herr der Lage. Denn seine Stunde ist noch nicht gekommen. Noch nicht.

Jesus geht zurück nach Jerusalem. Seine Jünger*innen folgen ihm. Sie sind längst nicht mehr allein. Seid Lazarus wieder unter den Lebenden ist, läuft Jesus allerlei Volk hinterher. Er ist schon längst Jesus Christ Superstar. Jesus auf Welttournee. Nicht alle können ihm so nah kommen wie seine Jünger*innen. Sie zählen sich zu seinem inner circle. Dass Jesus in Jerusalem mittlerweile ein rotes Tuch ist, stört sie nicht. Jesus ist ansteckend mit seinem festen Schritt. Da will ich ihn, sagt er und sie können nicht anders, als mitzukommen. Er wird schließlich wissen, was er tut.

In Jerusalem laufen die Vorbereitungen für das Pessachfest. Aus allen vier Himmelsrichtugen pilgern die Menschen in die Stadt. Pessach, das heißt vorübergehen, weil Gott die Israelit*innen verschont hat, als sie noch Sklavinnen und Sklaven in Ägypten waren. In Jerusalem backen sie dazu ungesäuertes Brot, weil der Brotteig am Abend vor dem Auszug aus Ägypten auch keine Zeit hatte, zu gehen. Später darf zum Pessachfest kein Weizen im Haus sein. Nicht ein Korn, kein Mehl und auch kein Brotkrümel darf sich unter dem Sofa verstecken. Die Kinder lieben es, danach zu suchen. Wenn sie etwas finden, bekommen sie zum Dank eine Süßigkeit.

Es sind auch ein paar Griechen unter den vielen, die nun zum Fest kommen. Ihnen gefällt das bunte Treiben auf den Straßen. Gespannt verfolgen sie die Vorbereitungen. Auch von Jesus haben sie gehört. Sie wollen mit ihren eigenen Augen sehen, wie so einer aussieht, der Tote zum Leben erweckt.

Als sie mitten in der Menge stehen, tippen sie Philippus auf die Schulter. »Wir wollen Jesus sehen.« Dicht gedrängt stehen sie alle. Philippus sagt es Andreas weiter. Beide gehen zu Jesus. »Hier sind ein paar Griechen. Sie wollen dich sehen.« Und Jesus schaut zu ihnen. Dann zu den Griechen und wieder zu Ihnen. Die Stunde ist gekommen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Die Antwort mag nicht ganz passen, denken seine Jünger*innen, aber Jesus weiß schon, was er sagt. Sie kennen ihn schon. Dass er vom Sterben spricht, ahnen sie auch. Immerhin hat er Lazarus ja von den Toten zurückgeholt. Wie ein Weizenkorn lag der im Grab. Von außen sieht so ein Korn leblos aus. Wenn es aber in die Erde kommt, dann beginnt das Wunder. Es keimt. Dazu passt die Antwort. Lazarus lag aber gar nicht in der Erde. Und außerdem: Das Weizenkorn stirbt ja nicht unten in der Erde, es keimt ja und bleibt doch ein und dasselbe. Lazarus hat aber nicht geschlafen. Er war wirklich tot. Vier Tage schon. Das Weizenkorn verwandelt sich. Wenn daraus eine Weizenpflanze wächst. Mit einem grünen Halm wie die Hoffnung. Leise weht sie im Wind. Jedes Korn bringt eine neue Pflanze hervor. Aber muss erst etwas sterben, damit etwas Neues beginnen kann? Ist das wie mit einer alten Liebe, die gehen muss, bevor eine neue wachsen kann? Bleibt aber nicht immer auch etwas von der alten Liebe erhalten? Im Gedächtnis, im Herzen vielleicht.

Es ist über ein Jahr her, dass ich das letzte Mal unbeschwert bei meinen Eltern im Wintergarten gesessen habe. Übermorgen jährt sich der erste Lockdown. Keine*r ahnte, dass weitere folgen sollten.

Die Toten unter uns sind mehr geworden. Weltweit und auch in Deutschland. Meine Familie blieb bisher verschont. Viele andere Familien nicht. Im Tagesspiegel werden ihre Geschichten erzählt. Stellvertretend für alle, die sich immer noch nicht an den Tischen zu Hause treffen können. Die Toten bleiben im Gedächtnis.

Es geht darum, sie nicht zu vergessen. Sie sind mehr als ein eine Zahl in einer großen Summe.

Jesus sagt, Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Seine Jünger*innen ahnen noch nicht, dass Jesus von sich selbst redet und von ihnen auch. Wenn er stirbt, sind sie es, die seine Früchte unter die Menschen bringen. Bald werden sie daran denken müssen, dass sie Jesus nicht einmal in die Erde legen konnten, sondern bloß auf einen Stein in ein Grab. Anderen konnte er helfen und sich selbst nicht?

Am Ostermorgen hält es eine dann nicht länger aus in ihrer Traurigkeit. Sie kehrt zurück ans Grab. Es ist offen und Jesus ist nicht da. Jesus ist keiner von den Toten. Draußen trifft sie einen Menschen. Sie hält ihn für den Gärtner. Und es ist kein Wunder, dass sie das tut. Denn seitdem Jesus von den Toten auferstanden ist, tut er nichts anderes, als zu säen auf Hoffnung hin (Kathrin Oxen), dass die Toten aus der Erde gezogen werden wie Weizen. Dann werden wir grünen wie das Gras auf Erden (Psalm 72). Grün wie der Weizen und grün wie die Hoffnung. Es wird dann kein Korn fehlen. Alle werden gefunden. Auch die letzten Krümel unter dem Sofa, wo die Kinder schon nachgeschaut haben. Dann heißt es: Ich lebe und ihr sollt auch leben.

Amen.

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