Süßes + Saures

Predigt am Sonntag Reminiscere 2021 im Lutherhaus

von Pfarrer Eike Thies

1 Wohlan, ich will von meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. 2 Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. 3 Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! 4 Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? 5 Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er kahl gefressen werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. 6 Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. 7 Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Meine Pflanzen brauchen Pflege.

Die Pflanzen an meinem Fenster strecken ihre Triebe nach dem Sonnenlicht aus. An den meisten Schneetagen der letzten Wochen war die Sonne nur ein weißer Fleck am Wolkenhimmel. Oben und unten sah gleich aus, getrennt nur durch die Häuser und die Straßen. Jetzt hat die Sonne schon an Höhe gewonnen. Immer wieder erreichen ihre Strahlen auch das Zimmerfenster. Von der Seite sieht es aus, als würden die Blätter wie offene Hände nach ihnen greifen wollen.

Ich vergesse oft, meine Pflanzen zu gießen. Der Kaktus nimmt es mir nicht so übel, der Geldbaum auch nicht, nur der Christusdorn wirft schon mal seine Blätter ab. Meine Pflanzen erinnern mich damit von Zeit zu Zeit an ihre Pflegebedürftigkeit.

Der Prophet Jesaja benutzt das Bild der Pflanzenpflege, um von der besonderen Beziehung von Gott und seinem Volk zu sprechen. Der Weinberg ist in der Bibel ein Bild für das Volk Israel. Gott umsorgt sein Volk und erwartet, dass es Frucht bringt. Dann ist er enttäuscht, dass es anders kommt, als erwartet.

Das Lied eines ungewöhnlichen Menschen.

In Jerusalem geht es ausgelassen zu. Die Menschen feiern in den Straßen und Jesaja singt sein Lied. In der Stadt auf dem Weinberg kennen sie ihn schon. Er ist ein bisschen ungewöhnlich mit seiner Familie. Jesajas Frau ist Prophetin wie er selbst und das gemeinsame Kind trägt einen Symbolnamen: Raubebald-Eilebeute.

Aber auch das Lied eines ungewöhnlichen Menschen lassen sie sich gern gefallen. Wenn es denn schön ist und süße Freude verspricht. Jesaja hebt an und die Hörenden kommen auf ihre Kosten. Mein Freund hatte einen Weinberg. Ihrer Phantasie wachsen Flügel. Ein Weinberg ist ein Lustgarten. Sie träumen sich schon hinein, da platzt der Traum wie eine Seifenblase. Süßen Wein wollten sie hören. Reinen Wein schenkt er nach.

Plötzlich sind sie selbst gemeint. Jesaja klingt dabei nach frustrierten Eltern, die sich am Wochenende nach gemeinsamer Zeit mit den Kindern sehnen, um etwas anderes zu tun, als mit den Kindern gemeinsam an den Aufgaben für das Home-schooling zu verzweifeln.

Plötzlich aber wird es den Hörenden klar, von wem Jesaja singt. Den Wolken und dem Regen zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben, kann auch nicht Jesaja. Es ist nicht der Lustgarten eines Freundes, von dem er singt. Er ist nicht sein eigener Frust, es ist Gottes Enttäuschung. Jesaja singt ein bitteres Lied. Von Gott, dem Gärtner und seinem Weinberg. Der Weinberg, das sind sie selbst, die Männer und Frauen von Jerusalem und Juda.

Jerusalem ist zu Wohlstand gekommen in den letzten Jahren. Den Menschen geht es gut. Aber nicht allen. Heute würden wir sagen, die Schere zwischen Arm und Reich geht im Weinberg immer weiter auseinander.

Gott hängt sein ganzes Herz an seinen Weinberg und hofft alles. Doch nichts passiert. Er wartet auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch. Auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei nach Schlechtigkeit.

Wir sind immer noch dieselben. Vielleicht sind wir ein paar Smartphones und Satelliten weiter, aber immer noch dieselben Menschen auf demselben Planeten. Wir leben immer noch auf Kosten anderer, der Natur und dem Erdball. Wir sind immer noch verstrickt in unserer Wut auf Schlepperbanden und die Rüstungsindustrie und vergessen, wo wir als Gesellschaft selbst fehlen. Wir sind immer noch im Alltag gefangen. Sehen vielleicht die Zahlen und sind erschrocken und vergessen den guten Vorsatz, den wir gestern noch fassten. Wir sind vielleicht technisch weiter. Aber immer noch dieselben pflegebedürftigen Geschöpfe.

Ich bin eine Kulturpflanze.

Mir gefällt der Gedanke, selbst eine Kulturpflanze zu sein. Es beruhigt mich, dass es jemanden gibt, der sich um mich kümmert. Der nach mir schaut, ob ich noch ausreichend Wasser habe oder genug Erde, damit meine Wurzeln festen Grund finden. Der mir Halt gibt, wenn ich zu knicken drohe und mich an einen sonnigen Platz stellt, wenn ich Wärme brauche. Eine*r, die*der will, dass es mir gut geht.

Aber auch eine, die von mir etwas erwartet. Gott bringt sich in Erinnerung als Geber*in meines Lebens. Dass ich sein darf, habe ich Gottes Liebe und Fürsorge zu verdanken. Es ist mir anvertraut, behutsam damit umzugehen. Es genauso zu pflegen und behüten, wie ich selbst umsorgt werde. 

Gott bindet sich damit an den Weinberg, wie ich mich an meine Zimmerpflanzen. Gott geht eine emotionale Verbindung ein und damit auch das Risiko, verletzt zu werden. Wer liebt, macht sich verletzlich. Es tut weh, wenn die Liebe nicht erwidert wird. Liebe schlägt in Wut um, weil sie keinen anderen Kanal mehr hat, als zu versuchen, zu hassen, um wieder Distanz aufzubauen. Ich kann Gott verstehen, wenn sie sich enttäuscht zurückziehen will.

Die Pflanzen an meinem Fenster, der Christusdorn, der Geldbaum und der Kaktus bringen sich dann selbst in Erinnerung. Ihre Blätter färben sich gelb und fallen ab, die Blüten verschrumpeln und sehen aus wie braunes Papier. Dann weiß ich, dass ich jetzt besonders behutsam mit ihnen sein muss, um sie nicht zu überwässern.

Gott lässt sich erinnern, wenn wir von Zeit zu Zeit die Blätter hängen lassen.

Die Bibel legt sich selber aus.

Das Weinberglied ruft in Erinnerung, dass auch Gott sich verändern lässt durch die hängenden Schultern und müden Knie der Menschen. Als Gott die Katastrophe der Sintflut sieht und das Leiden der Menschen, erkennt sie ihrem Fehler und verspricht: Nie wieder soll eine solche Flut die Erde bedecken. Als Abraham mit seinem Sohn Isaak auf den Hügel zum Opferaltar steigt, darf Isaak leben. Als die Israeliten als Sklav*innen in Ägypten leben, sieht Gott das Leid des Volkes und führt es trockenen Fußes durchs Meer. Unheil und Heil wechseln sich ab. Von Anfang an legt die Bibel sich selbst aus.

Zwanzig Kapitel später geht das Weinberglied weiter. Die Wut ist verflogen und auch die Enttäuschung über die schlechten Trauben ist der Erinnerung an die Liebe gewichen. Der Gärtner richtet die Hecke wieder auf. Er sichert dem Garten seinen Schutz zu. Nur eines ist anders jetzt. Auch Dornen und Disteln lässt er stehen, wenn sie seinen Frieden suchen.

Gott hat sich verändern lassen. Die Hecke wird durchlässig für Feinde, die Freunde werden wollen.

Die Pflanzen an meinem Fenster strecken sehnsüchtig ihre Triebe aus nach draußen, wo der Frühling beginnt. Noch können sie dort nicht sein. Nachts fallen die Temperaturen unter 5 Grad.

Gott ist wie eine gute Gärtnerin, die weiß, was ich brauche. Auch Disteln und Dornen gibt sie ihren Schutz. Unter ihrer Pflege kann ich Wurzeln schlagen, wachsen und Früchte tragen und sie weiß, wann es Zeit ist, mich nach draußen an die frische Luft zu stellen.

Amen.

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